beyond tellerrand Düsseldorf 2025 – Tag 1

Es gibt Konferenzen – und es gibt beyond tellerrand. Wer einmal dabei war, weiß: Hier geht es nicht nur um Web, Design und Technik, sondern vor allem um Inspiration, Begegnung und Gemeinschaft. In einer Zeit, in der viele Events durchpoliert und austauschbar wirken, bleibt beyond tellerrand ein wohltuend persönliches Format – liebevoll kuratiert, mit einem feinen Gespür für Themen, die bewegen.
Dahinter steht Marc Thiele, der mit einer besonderen Mischung aus Idealismus und Liebe zum Detail eine Bühne geschaffen hat, auf der nicht nur Wissen, sondern Haltung vermittelt wird. Ob auf der Stage oder im Foyer – überall trifft man auf Menschen, die mit Leidenschaft gestalten, reflektieren und weiterdenken. Das macht dieses Event so besonders – und zu einem echten Fixstern in unserem Kalender.
Für uns bei Studio Mitte ist die Reise nach Düsseldorf längst zur Tradition geworden: Zum fünften Mal sind wir vor Ort, ebenso dabei waren wir bei dem Event, vor sieben Jahren, in München. beyond tellerrand ist für uns mehr als ein Konferenzbesuch – es ist ein Ort, an dem wir auftanken, neue Perspektiven gewinnen und uns als Gestalter*innen weiterentwickeln.
Dieses Jahr bin ich hier, mit Oliver Schöndorfer, unserem langjährigen Freund des Hauses – seines Zeiches Typografie-Afficionado und Topdesigner.
In diesem Beitrag fassen wir unsere Eindrücke vom ersten Tag der diesjährigen Ausgabe in Düsseldorf zusammen – inklusive unserer Learnings aus den Talks und einem kleinen Ausblick auf Tag 2.
Every Thing We Touch
Paula Zuccotti
Paula Zuccotti, Industrial Designerin, Ethnografin und sogenannte „Trend-Forecasterin“, führte in ihrem Talk durch ein faszinierendes Projekt, das sie 2013 startete: Everything We Touch. Die Idee dahinter ist ebenso simpel wie tiefgründig – was sagt die Summe aller Gegenstände, die wir an einem einzigen Tag berühren, über uns aus? Paula zeigte eindrucksvolle fotografische Collagen aus über zehn Jahren ethnografischer Feldarbeit weltweit: von einem Cowboy in Arizona über eine 2-Jährige in Tokio bis hin zu ihrer eigenen Mutter in Buenos Aires. Was dabei entsteht, ist eine Art visuelle Zeitkapsel unserer Alltagskultur, die überraschende Erkenntnisse liefert: über Konsumverhalten, kulturelle Codes, emotionale Routinen und die Rolle von Dingen, die scheinbar nebensächlich sind.
Sie machte deutlich, wie unsere physische Interaktion mit Objekten stetig schwindet – etwa durch Digitalisierung – und wie wichtig es ist, den gegenwärtigen Moment zu verstehen, bevor man über die „Zukunft von …“ nachdenkt. Denn: Wer die Zukunft gestalten will, muss die Gegenwart in ihrer Vielfalt begreifen – nicht nur aus der eigenen, sondern aus vielen Perspektiven.
Ruhig, reflektiert, visuell eindrucksvoll. Paulas Vortrag hat aufgezeigt, wie viele Geschichten in Alltagsdingen stecken – und dass echtes Verstehen oft dort beginnt, wo wir genau hinschauen. Gerade in unserem Berufsumfeld, wo wir häufig in Zielgruppen, Personas und Nutzer*innenflüssen denken, ist das ein schöner Impuls: Weg vom Label – hin zum Leben.
There Is No Spoon
Léonie Watson
Léonie Watson spricht in “There is no Spoon” über künstliche Intelligenz – aber nicht aus technikverliebter Perspektive, sondern mit kritischem Blick auf Ethik, Zugänglichkeit und Verantwortung. Gleich zu Beginn fordert sie uns auf, zwei Begriffe mitzudenken: “Consumption & Copyright”. Denn generative KI basiert auf riesigen Datenmengen – oft ungefragt, oft urheberrechtlich geschützt. Und das System dahinter verbraucht enorme Mengen an Energie und Wasser. Trotzdem ist KI längst Teil unseres Alltags – in Browsern, Betriebssystemen, Anwendungen. Léonie fordert: Wenn die Entwickler*innen keine Verantwortung übernehmen, müssen es Gesellschaft und Gesetzgeber tun.
Anhand eindrücklicher Beispiele zeigt sie, wie KI-Tools zwar scheinbar funktionierenden Code generieren, aber oft grundlegende Prinzipien – etwa barrierefreie Gestaltung – nicht verstehen. Sie beschreibt sogenannte „AI Remediation Tools“, die Websites angeblich automatisch barrierefrei machen sollen, in Wahrheit aber oft das Gegenteil bewirken – und sogar zur Überwachung und potenziellen Diskriminierung beitragen. Gleichzeitig zeigt sie, was heute schon möglich ist: Bildbeschreibungen, kontextabhängige Texte, assistierende Agent*innen – für Menschen mit Behinderungen sind das echte Fortschritte, wenn sie richtig eingesetzt werden.
Léonie erdet technologische Euphorie mit straighter Klarheit, ohne die Chancen zu negieren.
Mein Take-Away: Wie gestalte ich den Umgang mit diesen Werkzeugen verantwortlich – und wie gehe ich mit der Realität um, dass KI längst mit mir interagiert, ob ich will oder nicht? Vor 20 Jahren war unser Code unser Handwerk. Heute mischt sich KI ein, oft klüger, oft dümmer, immer lauter. Was wird in 20 Jahren noch wirklich von uns geblieben sein? Diese Frage bleibt offen – und nehme ich von dem Talk mit.
The Art & Business of Lettering Design
Martina Flor
Martina Flor nimmt uns in “The Art & Business of Lettering Design” mit auf eine persönliche Reise: von Buenos Aires über Den Haag bis nach Berlin, von einer grafischen Grundausbildung hin zu einer weltweit gefragten Expertin für Lettering Design. In ihrem Vortrag verbindet sie Handwerk und Haltung, Technik und Unternehmertum. Sie zeigt, wie Buchstaben Geschichten erzählen können – durch Form, Gewicht, Rhythmus und Raum. Ob Bäckerei-Schriftzug in Paris oder Postkarte an Lionel Messi: Lettering ist für sie nicht nur Gestaltung, sondern Ausdruck, Charakter, Identität.
Sie zeigt Mut, sich immer wieder neu zu erfinden. Sie verlässt ihr Heimatland, fängt in einem neuen Umfeld bei null an – und nutzt die Form der Buchstaben als Navigationshilfe durch eine fremde Sprache. Sie baut sich ein Business auf, das auf Selbstinitiativen basiert: eigene Projekte, eigene Bücher, eigene Kurse. Dabei wird klar: Wer gesehen werden will, muss selbst sichtbar werden. Ihre Energie steckt an – und motiviert, nicht auf die „richtigen“ Aufträge zu warten, sondern selbst loszulegen.
Martina Flor motiviert uns darüber nachzudenken, welche Botschaft senden wir mit meiner Arbeit aus? Was bleibt von mir, wenn man nur das sieht, was ich aktiv gestaltet habe? Heute zählt mehr denn je, wofür ich etwas mache, und wohin ich damit will. Gestaltung ist kein Selbstzweck – sie kann Verbindung stiften, Haltung ausdrücken und das eigene Leben verändern.
Curious Findings
Jason Pamental
Jason Pamental spricht in “Curious Findings” über Neugier – und wie sie als Haltung unser kreatives Schaffen beeinflusst. Der Talk ist persönlich, reflektierend und voller leiser Aha-Momente. Statt wie gewohnt über Webtypografie zu sprechen, widmet sich Jason einem Thema, das ihn seit dem Tod seines Vaters beschäftigt. Dieser war zeitlebens wissbegierig – ein Mensch, der sich mit Begeisterung in neue Themen stürzte, vom Gitarrenspiel bis zu japanischen Gesellschaftsmodellen. Jason fragt sich: Kann man Neugier lernen – oder ist sie eine Eigenschaft, die man hat oder eben nicht?
Er geht dieser Frage nach, indem er kluge Köpfe aus seinem Umfeld zu Wort kommen lässt: Typografie-Größen wie Erik Spiekermann, David Jonathan Ross oder Doug Wilson, akademische Freunde, Designer*innen, Macher*innen. Was alle eint: ein innerer Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen. Jason spricht von einer Praxis – vergleichbar mit Yoga oder Schreiben – die niemals abgeschlossen ist, sondern sich mit jeder neuen Frage weiterentwickelt. Besonders inspirierend fand ich seine Beschreibung der kreativen Routine: tägliche Fotos auf Instagram, typografische Mini-Newsletter, Bücher, die aus Posts entstehen. Und dann die Erkenntnis: Es geht nicht immer darum, sofort die perfekte Antwort zu finden – sondern die richtige Frage zu stellen.
Für mich persönlich war dieser Talk ein echtes Wiedersehen. Ich habe Jason 2011 bei der Future of Web Design in New York erlebt, dann 2012 bei der Drupalcon in München – und seitdem haben wir online nie ganz den Kontakt verloren. Ihn nun auf der beyond tellerrand-Bühne zu sehen, war toll. Seine Geschichte ist keine große Show; er spricht eine Einladung aus: Bleib neugierig – du weißt nie, wo es dich hinführt.
Certain Irregularities
Brendan Dawes
Brendan Dawes' Talk “Certain Irregularities” ist wild und randvoll mit Ideen. Es ging um generative Systeme, Maschinen, die Zufall und Regelwerk kombinieren – aber eigentlich geht es um viel mehr: Mut zur Überraschung, Lust am Basteln, Liebe zu Dingen, die sich nicht ganz erklären lassen. Brendan steht seit Jahren an der Schnittstelle von Code, Design und Kunst, und es ist schwer, nicht von seiner Energie mitgerissen zu werden.
Er hat seine eigene Arbeit mit neuen Tools wie Houdini neu erfunden – nicht, weil er musste, sondern weil er neugierig geblieben ist. Seine projekte sind einfach aus einem Spieltrieb heraus entstanden, wie seine „Happiness Machine“, die zufällige Glücksmomente aus dem Netz druckt, oder ein Filmprojekt mit Gary Hustwit und Brian Eno, das mit jedem Abspielen anders ist. Und dann ist da noch das Cybersecurity-Projekt, das er bewusst nicht „techno-düster“ inszenierte, sondern wie ein visuelles Gedicht mit blühender Kreativität.
Brendan macht nicht einfach Digital Art, sondern Dinge, die man fühlen, anfassen, oder einfach nicht vergessen kann. Und: Er hat Humor. Wenn Wikipedia sein generatives Eno-Filmprojekt fälschlich als „AI-generated“ listet, dann verzweifelt er nicht, sondern wird kreativ.
In Summe: ungewöhnlich, überraschend und kurzweilig.
Less Thinkering, More Tinkering
Gavin Strange
Gavin Strange beschließt den Tag mit “Less Thinkering, More Tinkering” – und zündet ein Feuerwerk aus Energie, Witz und radikaler Kreativfreude. Er ist Designer, Regisseur, Vater, Tüftler, Musiker, Sammler, Bastler und ganz offensichtlich: ein Mensch, der sich nicht davon aufhalten lässt, dass ihn niemand gebeten hat, etwas zu tun.
Sein Talk ist eine rasende Ode an die kreative Eigeninitiative. Egal ob LEGO-Rigs, selbstgebaute Musikinstrumente, schräge Monogramm-Grafiken für alle Beyond-Tellerrand-Speaker oder stop-motion-Produktionen mit iPhones für Apple – Gavin macht, was ihn begeistert. Und er zeigt, dass es nicht darum geht, perfekt zu sein, sondern überhaupt loszulegen.
Er erzählt von seinem Alltag bei Aardman (ja, dem Aardman – Wallace & Gromit, Shaun das Schaf, Chicken Run), wo er mit Puppen, Plastilin und Herzblut arbeitet. Aber er macht auch klar: Die Magie entsteht nicht nur im Job, sondern vor allem in den vielen „Nebenprojekten“, die nie jemand bestellt hat. Projekte für seine Kinder. Für sich selbst. Für niemanden und alle zugleich.
Gavin spricht offen über Selbstzweifel, Überforderung, fehlende Energie – aber auch darüber, wie wichtig es ist, sich kleine Räume zu schaffen, in denen Dinge entstehen dürfen. Ohne Anspruch. Ohne „Businessplan“. Einfach nur, weil sie gemacht werden wollen.
Seine Devise: Nicht warten, bis man gefragt wird. Einfach machen. Denn selbst wenn niemand zuhört oder applaudiert – man hat gelernt, gelacht, gebaut, sich bewegt. Und manchmal entstehen aus diesen scheinbar sinnlosen Projekten ganz neue Wege – ein Musikprojekt namens Project Toy, animierte Weihnachtsfilme auf 101 Meter hohen Türmen, oder einfach nur: tiefe Zufriedenheit über ein gelungenes Stück Quatsch.
Sein Talk ist chaotisch, ehrlich, wild – aber durchzogen von einer klaren Botschaft: „Don’t make it perfect, make it now.“
Tag 1 der beyond tellerrand 2025 ist vorbei. Wie wir's gewohnt sind, geht nicht bloß ums Mitnehmen von Tools oder Methoden, sondern ums Innehalten, Staunen und Neudenken – vor allem auch um die Menschen. Die Talks waren abwechslungsreich, überraschend, manchmal fordernd. Was bleibt, sind Gespräche, Gedanken und dieses besondere Gefühl, unter Gleichgesinnten zu sein, die nicht nur machen, sondern gestalten wollen.
Morgen geht’s weiter mit Tag 2. Wir freuen uns auf neue Impulse, inspirierende Speaker*innen und hoffentlich wieder viele Gespräche, die noch ein Stück weiter über den Tellerrand hinausführen.